Narratives Interview
Das narrative Interview ist eine der zentralen Erhebungsmethoden in der qualitativen Sozialforschung. Entwickelt wurde es in den 1970er Jahren von Fritz Schütze im Rahmen einer Studie zu Kommunalpolitik. Vielfach angewendet wird das narrative Interview auch in der Biographieforschung, weswegen man es häufig auch unter dem Namen biographisches Interview in der Literatur findet. Ziel des narrativen Interviews ist es, dass die Erzählperson auf der Grundlage einer größtmöglichen Offenheit möglichst frei aus einer bestimmten Lebensphase erzählt.
Aufbau eines narrativen Interviews
Wann ist ein narratives Interview die richtige Wahl und wann nicht?
Narrative Interviews werden für Forschungsfragen verwendet, die auf die Ausgestaltung biographischer Erzählungen, auf die Konstruktionen bzw. Prozessstrukturen des Lebenslaufes, auf biographische Handlungsschemata oder auf narrative Identitäten abzielen. Das wichtige ist, dass die Erzählperson über Prozesse berichtet kann, welche sie selbst erlebt hat. Das Interview ist nicht geeignet für Fragen, bei denen Themen abstrakt beschrieben oder über sie reflektiert werden sollen. Es zielt weniger auf die Einschätzungen oder Beurteilungen bestimmter Prozesse ab. Außerdem gibt es verschiedene Voraussetzungen für die Wahl der Erzählperson, die beachtet werden müssen.
Die Person muss dazu in der Lage sein, ihre Lebensgeschichte (oder Geschichten über andere Prozesse), erzählen zu können. Deshalb sind narrative Interviews häufig erst im Erwachsenenalter durchführbar. Kindern fällt es beispielsweise zu schwer, ihre Lebensgeschichte zu rekonstruieren und in einer Erzählung wiederzugeben. Außerdem ist zu bedenken, dass bestimmte Personengruppen geradezu Profis darin sind, ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Beispielsweise haben sie dies im Rahmen von therapeutischen Zusammenhängen, Selbsthilfegruppen, etc. getan. Hierbei ist zu beachten, dass bei diesen Personen eher selten spontane Erzählung zustande kommt.
Erzähltheoretische Überlegungen: Zugzwänge des Erzählens
Eine zentrale (aber nicht unumstrittene) Annahme bei der Verwendung narrativer Interviews ist, dass in spontanen Erzählungen die Erfahrungen, die ein Mensch gemacht hat, wiedergegeben werden; die sog. Stegreiferzählung spiegelt einen grundlegenden „Orientierungsrahmen“ der interviewten Person.
Dass Erzählungen grundsätzlich geeignet sind, um individuelle Biographien u.ä. prozesshaft zu untersuchen, liegt laut Fritz Schütze an unterschiedlichen "Zugzwängen des Erzählens." Die Erzählperson will der*dem Zuhörer*in eine geschlossene Erzählung präsentieren und wird deshalb von unterschiedlichen „Zwängen“ geleitet: Dem Gestaltschließungszwang, dem Detaillierungszwang, und dem Kondensierungszwang.
Jede Geschichte ist durch einen Anfang, einen Höhepunkt und durch ein Ende strukturiert. Dieser Ablauf wird auch von der Erzählperson im Interview umgesetzt. Indem sie eine Geschichte zu Ende bringt, schließt sie somit die Gestalt. Wenn die Person eine Erzählung beginnt, kann gemeinhin erwartet werden, dass diese auch zu Ende geführt wird.
Die Erzählpersonen haben das Bedürfnis so detailliert zu berichten, dass die Erzählung von der interviewenden Person nachvollzogen werden kann. Berichtet die Person beispielsweise über ein Problem bei ihrer Arbeit, muss sie bestimmte Informationen dazu erklären. So muss sie vielleicht berichten, in welchem Bereich sie arbeitet und welche Position sie einnimmt, welche Arbeitskolleg*innen sie hat und inwiefern dies mit dem Problem, über das sie eigentlich berichten möchte, zusammenhängt. Dieser Zwang zeigt sich z.B. in einer Formulierung, wie: "Hier muss ich noch kurz erklären, wie es dazu kam. Ich arbeite ja ..."
Wenn die Erzählperson eine Geschichte erzählt, nimmt sie damit Bezug auf den eigentlichen Sachverhalt - zum Beispiel auf das Problem bei ihrer Arbeitsstelle. Nicht alle Details oder Vorkommnisse der Geschichte sind wichtig für dieses Problem, weswegen die Erzählperson eine Auswahl an Informationen trifft. Es werden somit bestimmte Schwerpunkte oder Relevanzen festgelegt, was als Kondensierungszwang bezeichnet wird. Die Geschichte wird so kondensiert, dass sie nachvollziehbar ist.
Durch diese "Zugzwänge" wird eine Ordnung in der Gesamterzählung hergestellt. Wie bereits beschrieben, wird davon ausgegangen, dass die so entstandene Gesamterzählung am ehesten die Erfahrungen der Person repräsentiert.
Beispiel: Unterschiedliche Erzählanfänge
Wie bereits erläutert soll den Erzählpersonen durch den sehr offenen Erzählstimulus die Möglichkeit gegeben werden, selbst zu wählen, wie sie ihre Erzählung beginnen, ausgestalten und beenden. Für den Beginn der Erzählung finden Sie nachfolgend Beispiele:
Nachfrageteil
Der Stegreiferzählung folgt, wie oben erwähnt, der Nachfrageteil. Zuerst werden sogenannte immanente Fragen gestellt, die sich auf das im Hauptteil Gesagte beziehen. Nachfragen sind dann sinnvoll, wenn in der Haupterzählung bestimmte Sachverhalte unverständlich waren oder nur angerissen und nicht detailliert erzählt worden sind. Die Erzählung wird dadurch näher ausgeleuchtet. Deshalb ist es wichtig, sich während der Stegreiferzählung zu notieren, welche Fragen später gestellt werden sollen. Auch beim Nachfrageteil wird aber die Erzählperson in ihrer Erzählung nicht unterbrochen.
Nach den immanenten Fragen können exmanente Fragen gestellt werden. Diese beziehen sich häufig auf die eigene Forschungsfrage. Diese Fragen können im Vorhinein in einem Interviewleitfaden notiert werden. Auch diese Fragen werden wieder offen und erzählgenerierend gestellt. Es zeigt sich, dass sich viele exmanente Fragen erübrigen, wenn die Interviewführung von Beginn an sehr offen gestaltet wurde. Die Erzählpersonen sind dann in ihrer Haupterzählung bereits auf diese Inhalte eingegangen.
Außerdem dient dieser Teil dazu, die Erzählperson aufzufordern, das Gesagte zu bilanzieren oder Bewertungen abzugeben. Das "Bilanzieren" sollte nicht zu früh im Interview eingeleitet werden, damit Erzählungen nicht dadurch verdrängt werden. Die Bilanzierungen zielen darauf ab, herauszufinden, wie die Person ihre eigene Gesamterzählung interpretiert und bewertet.
Der Nachfrageteil bietet somit die Möglichkeit einerseits bereits Angesprochenes näher auszuleuchten und andererseits unberührte, forschungsbezogene Themenbereiche in das Interview einzubringen.
Zusammenfassung
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Literaturhinweise
Rosenthal, Gabriele/Loch, Ulrike (2002): Das Narrative Interview. In: Schaeffer, Doris/Müller-Mundt, Gabriele (Hrsg.): Qualitative Gesundheits- und Pflegeforschung. S. 221-232. Bern u.a. : Huber.
Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, (13)3, S. 283-293.