Leitfadengestütztes Interview
Leitfadengestützte Interviews sind teilstandarisiert und gehören noch nicht lange zu den klassischen Erhebungsformen der qualitativen Sozialforschung. Dennoch wird diese Variante immer beliebter und gliedert sich spätestens nach Erweiterungen durch Meuser und Nagel im Bereich der ExpertInnen-Interviews oder durch Spezialisierungen von Witzel im Bereich der problemzentrierten Interviews, auf.
Leitfadengestützte Interviews heben sich durch eine bewusste Vorstrukturierung klar von komplett offenen Interviews ab. Der/die InterviewerIn geht bewusst deduktiv in das Gespräch, indem konkrete Fragen vorab überlegt werden. Allerdings ist es wichtig sich auch hier sich an das Gesagte vom Interviewten zu orientieren und nicht statisch einen Fragekatalog abzuarbeiten. Es gilt die Regel vom „Allgemeinen zum Spezifischen“. Es besteht die Kunst spezifische und zielgerichtete Fragen zu verfassen, aber dennoch darauf abzuzielen erzählgenerierende Sätze zu involvieren.
Aufbau leitfadengestütztes Interview
Allgemeiner Aufbau eines leitfadengestützten Interviews:
- Erzählstimulus (Narration oder Beschreibung) Die Perspektive des/der Befragten soll auf das interessierende Phänomen gelenkt werden und dessen Vorgeschichte erzählen.
- Thematisch geordnete aber offen gestellte Fragekomplexe, die zunächst auf das Gesagte aufbauen (immanent) und später neue Aspekte erfragen kann (exmanent). Der Übergang zwischen den Fragekomplexen sollte erneut bewusst offen und sanft formuliert sein, um erzählgenerierend zu wirken.
- Als Interviewabschluss können evaluierende Fragen gestellt werden, aber auch Fragen die kontroverse und/oder provokant anmuten. Gerne wird auch mit kleinen Gedankenexperimenten gearbeitet.
Wann ist ein leitfadengestütztes Interview die richtige Wahl und wann nicht?
Ein leitfadengestütztes Interview ist dann sinnvoll, wenn die Fragestellung relativ eng begrenzt verfolgt wird oder man bereits spezifische Vorannahmen zum Forschungsfeld besitzt (theoriegeleitet). Der Fokus liegt hier weniger in biografischen Erzählungen, sondern mehr darin argumentierende Darstellungsmodi zu erfassen.
Kriterien des leitfadengestützten Interviews
Um die späteren Fragebattereien zu verfassen ist es einfach sich an bestimmte Kriterien zu orientieren, da das Spannungsfeld zwischen zielgerichteteten Fragen und bewusster Offenheit nicht immer einfach erscheint umszusetzen. Przyborski und Wohlrab-Sahr schlagen diesbezüglich abgewandelte Kriterien nach Merton vor, welche aus den Parametern "Offenheit", "Spezifität", sowie "Kontextualität und Relevanz" bestehen.
- Das Kriterium der „Offenheit“ leitet sich von Mertons „Reichweite“ ab und bezieht sich auf den Anfangs-Erzählstimulus. Im besten Falle soll die erste Frage so offen gestellt sein, dass der/die InterviewpartnerIn den erfragten Sachverhalt aus seiner/ihrer persönlichen Sicht umschreibt. Je nach Forschungsinteresse und Spezifik bietet es sich an die Eingangsfrage narrativ orientiert zu stellen, um den Erzählfluss anzuregen. Diese Variante findet man als Einstieg oft z.B. bei problemzentrierten Interviews. Sie kann aber auch konkret auf eine bestimmte Beschreibung abzielen, was zum Beispiel bei ExpertInneninterviews gehäufter zum Tragen kommt.
- Das Kriterium der „Spezifität“ beschreibt genaue Nachfragen zum Gesagten, was oft dann auftritt, wenn ein Punkt zwar angedeutet wurde, aber nicht intensiv ausgeleuchtet. Der/die InterviewerIn kann im Anschluss an das Gesagte die Bedeutung des Sachverhaltes spezifisch erfragen (immanente Fragen). Es geht hier aber nicht darum, gänzlich neue Aspekte aufzuwerfen. Die Nachfragen orientieren sich am Gesagten der interviewten Person. Wichtig ist zudem, dass die Abfolge eingehalten wird: „offene“ Frage zu Beginn, „spezifische“ Nachfrage im Anschluss.
- Das Kriterium der „Kontextualität und Relevanz“ beschreibt die Wichtigkeit, dass die Fragen möglichst so gestellt werden sollten, dass die subjektive und/oder institutionelle Relevanz des/der Interviewten abgebildet wird - auch im Hinblick auf den sozialen, institutionellen und/oder persönlichen Kontext des/der Befragten (situative Einbettung).
Die Leitfadenerstellung
Der Leitfaden wird in der Regel schriftlich festgehalten, wenngleich die einzelnen Fragen im Interview flexibel gestellt werden dürfen und sollten. Der Leitfadenaufbau ist systematisch und themenzentriert und folgt dem Prinzip „vom Allgemeinen zum Spezifischen“. Es beginnt üblicherweise mit einem bewusst offenen Eingangsstimulus, daraufhin werden zunächst immanente Nachfragen gestellt und geprüft ob bereits Themen angesprochen, die im Leitfaden enthalten sind. Beginnen gänzlich neue Themenbereiche werden diese auch mit bewusst offenen Fragen eingeleitet. Dadurch wird bereits deutlich, dass die Interviewsituation dynamisch ist und sich primär auf das Gesagte des Gegenübers bezieht. Wenn Bereiche vom/von der Befragten bereits ausführlich besprochen wurden, müssen diese nicht mehr erfragt werden. Wenn Aspekte auftreten, die zuvor im Leitfaden gar nicht bedacht wurde, ist es möglich, daraufhin das Themenspektrum zu erweitern (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014).
Merke: „Der Leitfaden dient dem Interview, nicht das Interview dem Leitfaden!“
(Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014).
Zur Erstellung von Leitfragen schlägt Helfferich, die sogenannte SPSS-Methode vor. SPSS steht dabei für die Parameter „Sammeln“, „Prüfen“, „Sortieren“ und „Subsummieren“ (vgl. Helfferich 2016).
Die Leitfragen müssen die Herausforderung bestehen, die zentralen Aspekte des Forschungsinteresses abzubilden, jedoch ohne die zentrale Forschungsfrage genau zu benennen.
Um die Formulierung zu erleichtern nennt Kruse zentrale Aspekte für die Leitfragenerstellung:
- Eindeutige Formulierungen wählen (klar verständlich ausdrücken)
- Keine Mehrfachfragen formulieren (eindimensional)
- Verständliche Wortwahl verwenden
- Abstimmung der Wortwahl auf den Sprachschatz des/der Interviewten
(vgl. Kruse 2006)
Darüber hinaus hat er spezifische Do's und Don'ts verfasst, um die Erstellung von Interviewfragen zu erleichtern:
Do's: Diese Dinge solltet ihr beachten!
- "Beschreiben Sie mir den Aspekt doch bitte mal genauer."
- "Erzählen Sie mir doch mal .... ."
Die Wörter "Beschreiben" und "Erzählen" sollen dazu anregen eine Narration zu beginnen und zugleich bleibt es dadurch offen und da an den subjektiven Gedanken der/des Befragten.
- "Gibt es noch etwas, was Sie hinzufügen möchten?"
- Erfragung von immanenten Aspekten
Wenn der Gesprächsfluss ins Stoppen gerät ist es hilfreich immanente Fragen anzufügen. Zugleich ist es hilfreich zu erfragen, ob die befragte Person noch etwas hinzufügen möchte. Das dient neben der vollständigen Erfassung des Gesagten auch der Sicherheit, dass der Themenkomplex abgeschlossen werden kann, um daraufhin eine weitere Frage anzuschließen.
- "Wie ging es weiter?"
- "Wie kam es dazu, dass ...?"
Wenn die Narration stagniert, kann durch solche Fragen angeregt werden, nochmal gezielter nachzudenken, ob gewisse Aspekte schon genannt wurden. Auch Fragen, die sich auf bestimmte gesagte Ereignisse beziehen, können die befragte Person dazu anregen, das Gesagte intensiver auszuführen.
Beachten Sie offene Formulierungen, lassen Sie die Befragte/den Befragten subjektiv den Fragegegenstand beschreiben und geben möglichst wenig vor.
Wichtig wird zudem die Reflexion über eigene Konzepte in der Fragestellung.
Verzichten Sie auf Mehrfachfragen - bleiben Sie eindimensional.
Verwenden Sie eine eindeutige Wortwahl.
Stimmen Sie die Fragen auf den vermutlichen Wortschatz der/des Befragten ab.
Wählen Sie eindeutige Formulierungen, über einen eindeutigen Erzählgegenstand.
- "Wo sehen Sie sich in 10 Jahren?"
Ist eine hypothetische Frage, die zwar interessant sein kann, aber schwer zu beantworten. Im Rahmen von Gedankenexpierimenten, kann es durchaus sinnvoll sein, man sollte sie jedoch sparsam einsetzen und eher am Ende des Interviews stellen.
- "Erzählen Sie mir doch bitte mal .... ."
Die Verwendung von Abtönungspartikeln kann eine Frage abschwächen. Diese Abtönungspartikel können Füllwörter sein wie: doch, mal, so, eigentlich, denn. Besonders hilfreich sind weiche Fragestellungen bei sensiblen oder heiklen Fragen.
Faktenfragen, z.B. zu Geschlecht, Alter, Herkunft, Bildungsabschluss, beruflicher Werdegang, sofern diese Aspekte abgefragt werden sollen, gehören ans eher Ende eines Interviews oder werden mit einem kleinen Fragebogen losgelöst vom Interview abgefragt. Je nach Interviewform sind diese Fragen mehr oder weniger von Bedeutung und können mehr oder weniger intensiv abgefragt werden. Bei ExpertInneninterviews ist es zum Beispiel ganz normal, dass sich die befragte Person im ersten Fragekomplex selbst vorstellt. Hier können dann auch klassische Faktenfragen vorab durchgeführt werden.
- "Ja das wär's erstmal soweit..."
- "Haben Sie noch weitere Fragen?"
- "... und genau so bin ich in diesem Bereich gelandet."
Die befragte Person sollte nicht unterbrochen werden, es gilt auch hier erst immanent Nachfragen, wenn das Gespräch stockt, exmanent erst am Ende, wenn gewisse Aspekte nicht genannt wurden. Man sollte auf gewisse Erzählcoda (siehe oben) achten, die deutlich machen, dass der/die Befragte mit dem Thema abgeschlossen hat.
Dont's: Hier aufpassen und folgende Fragen vermeiden!
- "Haben Sie sich daraufhin noch weiter beworben?"
Besser: "Wie sind Sie im Bewerbungsverfahren weiter vorgegangen?"
Geschlossene Fragen können mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden, dadurch stockt einerseits der Gesprächsfluss, andererseits kann es sein, dass durch eine getätigte Feststellung innerhalb der Frage zu viel vorgegeben wird. Die Aussagen erhalten dadurch nicht die Bedeutung, die sie haben könnten, wenn der/die Befragte offen und subjektiv antwortet.
- "Warum sind Sie so vorgegangen?"
Besser: "Und wie kam es dazu, dass ...?"
Begründungen implizieren unterschwellig Rechtfertigungsmomente, was ein potentiell aufgebautes Vertrauenverhältnis zwischen befragter Person und Interviewer*In eindämmen kann. Je nach Sensibilität des Forschungsfeldes können solche Fragen auch anklagend wirken.
- "Sie sind wohl auch der Meinung, dass ... ?"
Besser: "Wie ist Ihre Meinung zu ... ?"
Suggestivfragen beeinflusssen das Gesagte und nehmen dem Gespräch die authentischen Gedanken zur abgefragten Thematik. Es widerspricht dem Gedanken der Offenheit und können die subjektive Einschätzung verfäschen.
- "Sie sind politisch ja eher konservativ. Wie ist das jetzt für Sie hier eher im liberalen Spektrum zu agieren?"
Wertende Fragen können implizit auch abwertend wirken, insbesondere, wenn das Forschungsfeld eher sensibel ist. Diese Art von Fragen spannt einerseits das Verhältnis zwischen der befragten Person und dem/der InterviewerIn an und andererseits kann dadurch der Gesprächsfluss ins Stocken geraten.
- "Jetzt beschreiben Sie mir Ihre Einschätzung, ganz spontan, so wie aus der Pistole geschossen."
Einerseits binden diese Art von Fragen einen Umgangsprache ein, die für ein wissenschaftliches Interview unangebracht ist. Andererseits weicht die Frage selbst von einer klaren und eindeutigen Formulierung dadurch ab.
- "Könnten Sie mir vielleicht beschreiben, wie Sie dazu gekommen sind, dass ..."
Fragen im Konjunktiv wirken nicht konsequent und ermöglichen Ausweichmechanismen und Fluchträume.
Die Forschungsfrage direkt zu stellen, widerspricht dem Anspruch die Fragen explorativ und offen zu stellen. Teilweise kann die Forschungsfrage aus theoretischen Vorüberlegungen abgeleitet sein, mit besonderer Formulierung auf das Erkenntnisinteresse, dadurch können der befragten Person bestimmte Termini und Vorüberlegungen bewusst werden und es kann eine dementsprechend beeinflusste Beantwortung der Frage entstehen. Zudem kann meist eine zentrale Frage, die subjektiven Elemente des Forschungsgegenstandes gar nicht komplett erfassen. Meist besteht eine Forschungsfrage aus Teilaspekten, die mit Teilfragen gut beantwortet werden können und dadurch zum großen Ganzen werden. Sind diese Teilfragen auch noch offen formuliert, kann explorativ und subjektiv die Sichtweise des Befragten erfasst werden, was auch so bedeutend an qualitativen Interviews ist.
- "Wie hätte Ihr Kollege in dieser Situation reagiert?"
Besser: "Was meinen Sie wohl, wie Ihr Kollege in dieser Situation reagiert hätte?"
Fragen, die das Fragen, die das Wissen vom Befragten übersteigen, hemmen den Gesprächsfluss. Klassisch wären da z.B. Fragen über die Einstellung anderer Personen zu stellen. Wenn Sie Informationen über andere haben möchten, bietet es sich an eine zirkuläre Frage zu stellen, also gezielt die subjektive Einstellung über die Frage nach einer Fremdeinschätzung zu erheben.
Übung: Leitfadenfragen verbessern
Hier können Leitfadenfragen anhand der obenstehenden "Do's" und "Dont's" überprüft werden.
Zusammenfassung
Literaturhinweise
Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Kruse, Jan (2015): Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage, Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Merton, R. et al. (1956): The Focused Interview: A report of the bureau of applied social research. Columbia University
Przyborski, Aglaja/Wohlrab Saar, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4., erweiterte Auflage, München: Oldenbourg.