Dokumentarische Methode

Die dokumentarische Methode ist ein Verfahren der sogenannten rekonstruktiven Sozialforschung und beinhaltet einen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Ansatz. Die Interpretation geht auf Karl Mannheim zurück und fragt danach, wie soziale Realität hergestellt wird. Sie zielt damit auf handlungsleitende Orientierungsmuster bzw. den Habitus von sozialen Gruppen.

Zu diesem Zweck richtet die dokumentarische Methode den Blick auf das milieuspezifische, handlungsleitende Wissen, das zwar von den untersuchten Personen nicht explizit formuliert wird, sich allerdings aus der Interaktion zwischen Personen aus dem gleichen Milieu erschließen lässt. Sie geht dabei sequenzanalytisch vor. Das heißt, das Material wird nicht durch die Einordnung in Kategorien analysiert, sondern durch die Analyse von Interaktionsschritten in der Reihenfolge ihres Entstehens. Darüber hinaus werden verschiedene Fälle verglichen, um herauszufinden, welcher gemeinsame Erfahrungsraum für die Hervorbringung des identifizierte Orientierungsmusters verantwortlich ist. Aus diesen Fallvergleichen kann ein zentrales Ziel in einer anschließenden Typenbildung liegen.

Theoretische Grundlagen

Die dokumentarische Methode ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der theoretischen Grundlage von Karl Mannheims praxeologischer Wissenssozologie entstanden (wobei methodologische Texte erst in den 1980er-Jahren publiziert wurden). Sie kritisiert, dass sowohl bei subjektivistischen Zugängen zur sozialen Realität, die auf das im Subjekt verortete Warum abzielen, als auch bei objektivistischen Zugängen, die auf das Was der sozialen Welt ausgerichtet sind, Forschende impliziert werden, die außerhalb der beobachteten Zusammenhänge stehen und über ein besseres Verständnis dieser Zusammenhänge verfügen, als die untersuchten Personen. Die dokumentarische Methode nimmt daher für sich in Anspruch, eine vermittelnde Position einzunehmen und mit ihrer Frage danach, wie soziale Realität hergestellt wird, kein überlegenes Verständnis der Forschenden zu benötigen, sondern lediglich einen anderen Blickwinkel.

Dieser andere Blickwinkel wird benötigt, da die dokumentarische Methode zwei Formen von Wissen unterscheidet: Kommunikativ generalisiertes Wissen, das explizit in begrifflicher Form zur Verfügung steht und handlungspraktisches Wissen, das in Handlungen einfließt und damit zur Herstellung von Wirklichkeit beiträgt, ohne dabei explizit geäußert zu werden (oder auch nur formulierbar zu sein). Für letzteres könnte man das Zuschnüren von Schuhen verwenden: Wir verfügen über das Wissen, Schnürsenkel zu verknoten, könnten dieses Wissen aber nicht formulieren, ohne es zuvor gründlich zu reflektieren.

Da die dokumentarische Methode nicht nur die Annahme eines besseren Verständnisses des*der Forschenden kritisiert, sondern auch die Annahme, er*sie stehe außerhalb der beobachteten Zusammenhänge, spielt darüber hinaus das Konzept der Standortverbundenheit eine große Rolle: Da Forschende die erforschten sozialen Phänomene immer auf Grundlage ihrer eigenen Handlungspraxis (z. B. in Form ihrer Erfahrung oder ihrer wissenschaftlichen Sozialisation) erfassen, müssen theoretische Abstraktionen in Form eines systematischen Vergleichs verschiedener Fälle vorgenommen werden, um zu prüfen, ob sich in einem Fall unterstellte Beobachtungen auch in anderen Fällen ähnlicher Struktur wiederfinden, bzw. ob sie sich auch in Fällen mit einer anderen Struktur wiederfinden und somit nicht auf diese Struktur zurückzuführen sind.

Grundprinzipien der dokumentarischen Methode

Aus diesen theoretischen Grundlagen ergeben sich einige Grundprinzipien, denen die dokumentarische Methode folgt und die die Auswertungspraxis prägen:

Erhebungsinstrumente

Die dokumentarische Methode wurde zunächst im Zusammenhang mit Gruppendiskussionsverfahren entwickelt, von Beginn an wurde aber der Mehrwert einer Methodentriangulation stark gemacht, um Fälle aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Somit greift die dokumentarische Methode auf auf verschiedene Erhebungsmethoden zurück.

Gruppendiskussion In Gruppendiskussionen lässt sich der kollektive Habitus der Beteiligten, der sich aus geteilten Erfahrungsräumen ergibt, besonders gut betrachten. Dafür lässt sich nur wenig über alltägliche Handlungspraktiken in Erfahrung bringen, da sie den Beteiligten größtenteils bekannt sind und daher nicht thematisiert werden.

Narratives Interview In narrativen Interviews wird stärker auf alltägliche Handlungspraktiken eingegangen, da diese dem*der Interviewenden als Außenstehendem*r nicht bekannt sind. Dafür werden individuell stigmatisierende Erfahrungen (z. B. Probleme in der Kindheit) oft ausgespart, während sie in Gruppendiskussionen unter Gleichgesinnten öfter thematisiert werden.

Teilnehmende Beobachtung Die teilnehmende Beobachtung ermöglicht es, körperbezogene Ausdrucksformen wie Gesten zu betrachten, die in der sprachlichen Kommunikation keine Entsprechung haben. Darüber hinaus ist es in Kombination mit Gruppendiskussionen möglich, zu prüfen, inwiefern gemeinsame Normen und Regeln auch praxisrelevant sind. Auf der anderen Seite finden Beobachtungen vor allem auf der Ebene der Gruppe statt und nicht auf Ebene der gruppenübergreifenden gemeinsamen Erfahrungsräume.

Weitere Erhebungsinstrumente Neben diesen grundlegenden Erhebungsformen werden darüber hinaus auch methodenintegrative Verfahren mit folgenden Erhebungsinstrumenten durchgeführt:

  • Quantitative Verfahren
  • Videogestützte teilnehmende Beobachtung
  • Leitfaden- und Paarinterviews
  • Analyse von Bildern
  • Filminterpretation
  • Interpretation von (medien-)technishen und anderen Gegenständen

Ablauf der Auswertung

Der Auswertungsablauf findet in vier Schritten statt. Zuerst wird ein thematischer Überblick erstellt und es werden Passagen zur Interpretation ausgewählt. Diese werden anschließend zuerst zusammengefasst und anschließend auf ihren dokumentarischen Sinngehalt hin interpretiert. Zuletzt werden verschiedene Passagen eines Falls und verschiedene Fälle untereinander verglichen, um identifizierte Sinngehalte zu prüfen und dem korrekten Erfahrungsraum zuzuordnen.

Interpretation: Aspekte einen Text zu betrachten

Textsorten

  • Erzählung: Handlungs- und Geschehensabläufe mit Anfang und Ende. Dies können singuläre Ereignisse mit spezifischen Zeit- und/oder Ortsbezügen. (Markerworte: "und ... dann")
  • Beschreibung: Wiederkehrende Handlungsabläufe oder feststehende Sachverhalte. (Markerworte: "immer", "öfters", "regelmäßig")
  • Argumentation: (Alltags-)theoretische Zusammenfassungen und Stellungnahmen zu Motiven, Gründen, Bedingungen für eigenes oder fremdes Handeln.
  • Evaluation: Bewertende oder einschätzende Äußerungen. (Markerworte: "deprimierend", "nicht zu billigen", "gut verlaufen")

Diskursorganisation

  • Parallel: Es wird immer wieder derselbe Orientierungsgehalt ausgedrückt
  • Antithetisch: Es wird immer wieder das Gegenteil behauptet
  • Univok: Es ist eine eindeutige Gesprächsführung
  • Divergent: Der Diskurs strebt auseinander
  • Oppositionell: Im Diskurs ist aktiver Widerstand zu entdecken

Diskursbewegungen

  • Proposition: neue Orientierung wird im Rahmen eines Themas aufgeworfen
  • Elaboration: Aus- oder Weiterbearbeitung einer Orientierung...
    • ... mit Argumenten (Argumentative Elaboration)
    • ... mit Beispielen (Exemplifizierung)
  • Differenzierung: Grenzen einer Orientierung werden markiert, ohne dass ein negativer Gegenhorizont gebildet wird
  • Validierung: Bestätigung aufgeworfener Orientierungen
  • Ratifikation: Bestätigung des inhaltlichen Verständnisses
  • Antithese: verneinende Bezugnahme auf eine Proposition (mit anschließender Synthese)
  • Opposition: Entwurf einer Orientierung, die mit der vorherigen unvereinbar ist
  • Divergenz: verdecktes Aufwerfen eines widersprüchlichen Orientierungsrahmens ("ja, aber...")
  • Konklusion: Ende eines Themas
    • Echte Konklusion: Abschluss mit einer Orientierung (z. B. Synthese)
    • Rituelle Konklusion: Themenwechsel wird provoziert, ohne dass eine Synthese stattfindet (z. B. über eine gemeinsame, aber irrelevante Orientierung wie "Jeder hat eine andere Meinung")

Für welche Forschungsfragen ist die dokumentarische Methode geeignet?

Die dokumentarische Methode eignet sich sich insbesondere dann, wenn eine fallrekonstruktive Betrachtung angestrebt werden soll. Das sequenzanalytische Vorgehen beim Einzelfall und anschließende Fallvergleiche, ermöglichen einerseits eine Fallrekonstruktion im Detail, aber auch komparative Analysen, bis hin zur Typenbildung. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf eine klassische empiriegeleitete und -begründete Theoriegenerierung.

Um ein besseres Verständnis für die Anwendungszwecke der dokumentarischen Methode zu ermöglichen, soll hier beispielhaft eine Studie zum Berufseinstieg von Lehrer*innen präsentiert werden, die mit Hilfe der dokumentarischen Methode durchgeführt wurde. Die Studie wird dabei nur in Ausschnitten dargestellt. Für eine vollständige Betrachtung der Studie empfiehlt sich ein Blick in den abschließend zitierten Artikel.

Zusammenfassung

Literaturhinweise

Bohnsack, Ralf (1999): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden: Springer VS.

Nohl, Arnd-Michael (2017): Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS.

Przyborski, Aglaja; Wohlrab-Sahr, Monika (2014): Qualitative Sozialforschung. München: DE GRUYTER.

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Autor*innen dieses Artikels

Julius Kötter (Methodenzentrum), Yvonne Kohlbrunn (Methodenzentrum)

Diese Seite wurde zuletzt am 15.11.2022 aktualisiert.