Beobachten lernen

Diese Überschrift ist vielleicht zunächst irritierend: Beobachten ist etwas, das wir tagtäglich wie selbstverständlich tun; warum sollte man Beobachten also erst lernen müssen? Tatsächlich unterscheidet sich wissenschaftliches Beobachten deutlich von unserer Alltagspraxis. So sind folgende drei Anforderungen für qualitative Beobachtungsmethoden kennzeichnend und müssen erlernt werden: Gespür für interessante Situationen (Wie kann ich in der Fülle von Eindrücken etwas Interessantes sehen?), Selbstbeobachtung als Teil der Beobachtung (Wie differenziere ich zwischen Beobachtungen und meinen Wertungen?) und Verschriftlichungsroutinen (Wie notiere ich, was ich beobachte?). Um gute Beobachtungsdaten zu erstellen, müssen diese Herausforderungen gekannt und ein Umgang damit praktisch geübt werden.

Gespür für interessante Situationen entwickeln

Insbesondere wenn uns unser Forschungsfeld aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, wie z. B. schulischer Unterricht oder studentische Subkulturen, ist es schwierig überhaupt Interessantes sehen zu können. Dadurch, dass wir selbst in diesen Feldern sozialisiert wurden, sind die impliziten Regeln des Feldes selbstverständlich und dadurch unsichtbar für uns. Wir wundern uns bspw. nicht darüber, dass im Unterricht Fragen gestellt werden, deren Antworten der fragenden Person bekannt sind, obwohl das in nahezu allen anderen Kontexten undenkbar erscheint. Aber auch in uns eher fremden Feldern, ist es oft sehr schwierig, interessante Situationen zu erkennen, weil wir schlicht überfordert sind von Sinneseindrücken. Folgende Strategien können helfen, ein Gespür für ebendiese interessanten Szenen zu entwickeln und dadurch zu einer präzisen Fragestellung zu kommen.

Dadurch, dass man bereits vor der eigentlichen Beobachtung Forschungs- und Fachliteratur zum eigenen Feld gelesen hat, können häufig vorläufige Beobachtungsfragen formuliert oder bestimmte Feld-Praktiken ausgewählt werden. Diese müssen noch nichts mit der letztlich gewählten Forschungsfrage zu tun haben. Es hilft aber ungemein, einen Beobachtungsfokus zu haben, um Beobachten zu lernen.

Bei erstmaliger Beobachtung erscheinen uns bestimmte Praktiken sehr gewöhnlich. So ist die morgendliche Begrüßung von Vorgesetzten vielleicht nichts, was uns auffallen würde. Beobachtet man diese aber wiederholt in verschiedenen Kontexten und Konstellationen, fällt schnell auf, dass wir über die Begrüßung viel über einen sozialen Raum und implizite Hierarchien lernen können.

Um Zusammenhänge und soziale Konstellationen zu verstehen, kann es hilfreich sein, einzelnen Personen durch einen Tag zu begleiten oder Artefakten, wie bspw. einem Antrag, einem Klassenbuch oder einem Entwurf über einen Prozess zu verfolgen. Des Weiteren lohnt es sich, gezielt verschiedene Seiten einer Situation zu beobachten (Lehrer*in/Schüler*in, Antragssteller*in/Sachbearbeiter*in etc.).

Eine etablierte Strategie der Ethnographie ist es, eine Praktik als Doing zu sehen (Sacks 1984). Die Annahme dahinter ist, dass wir, um sozial verständlich zu sein, unseren Mitmenschen zeigen müssen, was wir tun, denken und fühlen. Anstatt also davon auszugehen, dass eine Schülerin gerade selbstständig arbeitet, können wir fragen, was "Doing Selbstständigkeit" auszeichnet. Woran genau machen wir "Selbstständigkeit" fest? Was halten wir für "unselbstständig"? Dadurch wird selbst Einzelarbeit zu einem sozialen und öffentlichen Geschehen.

Eine voraussetzungsreichere Strategie der Verfremdung ist die sequentielle, d. h. sehr kleinschrittige, Analyse von gesprochener Sprache. Die Idee ist, dass uns bestimmte Logiken eines Feldes erst deutlich werden können, wenn wir uns einzelne Sprechakte sehr genau anschauen. Dafür gibt es sequenzanalytische Methoden wie die Objektive Hermeneutik oder die Konversationsanalyse. Es kann aber auch ohne methodische Rahmung hilfreich sein, bestimmte Äußerungen, wie bspw. Lehrer*innen-Fragen wortwörtlich zu notieren, um diese intensiv untersuchen zu können.

Bei jeder qualitativen Studie ist es zentral, sich während des Forschungsprozesses analytische Notizen zu machen, um die eigene Fragestellung zu konkretisieren. Diese Notizen sind zum einen auf die Beobachtungen selbst bezogen (Was fällt mir auf? Was irritiert mich? Was erscheint mir interessant?) und zum anderen auf die Forschungsliteratur zum Thema (Welche theoretischen Ansätze und empirischen Forschungen gibt es? Was erscheint mir spannend/für mich anschlussfähig?). Eine interessante Forschungsfrage entsteht nur, wenn beide Seiten berücksichtigt werden. Es ist wichtig, die eigene Forschungsfrage immer wieder auszuformulieren und ggf. zu verändern.

Alltagspraxis als 'Doing ...' sehen lernen

Selbstbeobachtung in der Beobachtung

Wenn wir beobachten, dann kategorisieren und bewerten wir immer zugleich. Das ist zunächst erstmal völlig unproblematisch bzw. gar nicht anders möglich, weil wir sonst in der Vielzahl der Eindrücke schlichtweg nichts erkennen könnten. Wir erlernen bestimmte Sehgewohnheiten, die unsere Wahrnehmungen grundlegend strukturieren. Diese sind gesellschaftlich und habituell geprägt. So kann es sein, dass unsere Sehgewohnheiten irritiert werden, wenn wir einen Menschen weder eindeutig als Frau noch als Mann identifizieren können. Hier zeigt sich die gesellschaftliche Prägung der Zweigeschlechtlichkeit, die auch unsere Wahrnehmungen strukturiert. Mit habitueller Prägung ist im Anschluss an Bourdieu gemeint, dass wir, je nachdem in welchem Milieu wir aufgewachsen sind, je bestimmte Wahrnehmungsweisen entwickelt haben. So sympatisieren wir bspw. oft eher mit Personen, die uns habituell ähnlich sind.

Was heißt das nun für qualitative Beobachtungsforschung? Es ist nicht das Ziel, diese impliziten Wahrnehmungsweisen zu suspendieren, um wirklich „objektiv“ zu beobachten. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass es diese Art der Objektivität in einer offenen Beobachtungssituation nicht geben kann. Stattdessen ist es wichtig, dass die eigenen Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten so weit wie möglich zum Gegenstand der Reflexion werden. Es gilt bei der Beobachtung auch immer sich selbst zu beobachten. Das ist ein Lernprozess, der einem deutlich machen soll, dass zeitgleich ablaufende Bewertungen, das was wir sehen können beeinflusst. Beobachten wir bspw. Unterricht anhand von eingewöhnten Kategorien „motivierend“, „langweilig“, „autoritär“ werden uns die Feinheiten der sozialen Situation entgehen. Folgende Übung soll diese Gleichzeitigkeit von Bewertung und Beobachtung deutlich machen und zu differenzieren helfen.

Verschriftlichungsroutinen entwickeln

Auch wenn es so einfach klingt, die Verschriftlichung von Beobachtetem in so genannten Feldnotizen ist sehr voraussetzungsreich und bedarf einiges an Übung (siehe Beobachtungen aufschreiben). Es geht dabei um ganz praktische Fragen: Wie stelle ich sicher, dass ich immer etwas zum Schreiben zur Hand habe? Sollte ich während oder lieber nach der Beobachtung mitschreiben? Wie detailliert soll ich meine Beobachtungen notieren? Es ist wichtig, dass Forscher*innen diese Fragen durch Erproben verschiedener Varianten für sich klären. Dazu ist es hilfreich auch Beobachtungen zu notieren, die (noch) nichts mit der eigenen Fragestellung zu tun haben, um bestimmte praktische Routinen zu entwickeln. Folgende Übungen können dabei helfen:

Zusammenfassung

Literatur

Boer, Heike de; Reh, Sabine (Hg.) (2012): Beobachtung in der Schule - Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer VS.

Breidenstein, Georg; Hirschauer, Stefan; Kalthoff, Herbert (2013): Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UTB.

Reh, Sabine (2012): Beobachtung aufschreiben. Zwischen Beobachtungen, Notizen und „Re-writing“. In: Boer, Heike de; Reh, Sabine (Hg.) (2012): Beobachtung in der Schule - Beobachten lernen. Wiesbaden: Springer VS.

Sacks, Harvey (1984): On doing being ordinary. In: J. Maxwell Atkinson und John Heritage (Hg.): Structures of Social Action. Srudies in Conversarion Analysis. Cambridge: Cambridge University Press, S. 413–429.

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Autor*innen dieses Artikels

Nele Kuhlmann (Methodenzentrum)

Diese Seite wurde zuletzt am 16.02.2021 aktualisiert.